Es hätte ein ganz anderer Blog werden sollen. Wir wollten von den schönen Spätsommertagen in Westfrankreich berichten. Von der spannenden Flussfahrt auf der Loire bis Nantes, von der Île de Machine in derselben Stadt, von Apéros am Strand, von tollen Crews, die mit uns gesegelt sind, von der ruhigen Überquerung der Biskaya, vom schwedischen Paar mit dem wir seit Brest unterwegs Richtung Süden ziehen und vom Holländer, der alles weiss und schon überall gewesen ist.
Tatsächlich erlebten wir anfangs September einen den bisher wärmsten je gemessenen Tage in der Bretagne. Wir ankerten auf den Glénans-Inseln, tranken wunderbaren Bordeaux, lagen nachts auf dem Rücken im Cockpit und blickten zu einem überwältigenden Sternenhimmel auf. Dazu lief «Sekundenglück» von Grönemeyer und wir wussten ganz genau, wovon der Liedermacher singt. Davon wollten wir schreiben.
Eigentlich wollten wir diesen Blog von Porto aus schreiben. Als wir damals im März an der Küste Portugals nordwärts segelten, war Portugal im Lockdown. Das bedeutete, dass man nicht aus dem Haus durfte. Wir konnten zwar in die Häfen rein und durften Lebensmittel einkaufen, aber sonst war alles zu. Auch die Pärke, die Strände, die Wanderwege, tudo fechado. So hatten wir bisher nichts von Portugal gesehen und freuten uns darum auf die Zeit jetzt im Herbst, um Porto und Lissabon zu erkunden. Stattdessen sitzen wir nun in Cangas fest, einem Vorort von Vigo, in luftiger Höhe aufgebockt auf dem Trockenen in einer Werft und warten auf die Offerten für die Reparatur. Ob und wie wir Portugal sehen können, wird sich zeigen.
Unser zerfetztes Ruder ist ein viel bestauntes Objekt. Neben der Werft spazieren Leute zum Ende der Hafenmole hinaus und nachher wieder zurück zur Stadt. Manche bleiben stehen und blicken zur EXTRA MILE rüber und meinem mit vielsagendem Blick: «Orcas». Scheint eine unheilige Allianz von Mitleidsbekundung und Sensationsgier zu sein. Dann folgt spanisches Gemurmel bis man irgendwann wieder das Wort … «Orcas» vernimmt. Ich winke zu ihnen rüber, zeige auf das Ruderblatt und bestätige: «Orcas». Die Leute nicken mit ernster Miene, sagen noch ein letztes Mal … «Orcas» und gehen bedächtig ihren Weg. Erstaunlich mit wie wenig Vokabular man doch ein tiefgehendes Gespräch führen kann.
Noch am Tag des Zwischenfalls hatte ein Reporter der hiesigen Regionalzeitung FARO DE VIGO einen kurzen Artikel (hier lesen) über den Vorfall verfasst und tags darauf erschien gar ein doppelseitiger Text (hier lesen), so dass die ganze Gegend von unserem Unglück weiss.
Wir waren anfangs letzter Woche in einem Hafen bei Vigo und liessen dort einen neuen Anlasser für den Dieselmotor einbauen lassen. Am Mittwoch legten wir ab und wollten nach Süden bis zur Flussmündung des Rio Mino segeln. Am Donnerstag würden wir dann den Rest bis Porto machen. Allerdings war der Wind am Mittwoch schwach, schwächer als prognostiziert, und bald war klar, mit so wenig Wind würden wir den ganzen Tag unter Motor laufen müssen, wenn wir noch bei Tageslicht das Ziel erreichen wollten. Und das mussten wir, denn die Flussmündung des Mino ist selbst am Tag anspruchsvoll. Bei Dunkelheit in die unbefeuerte, mit Sandbänken durchzogene Flussmündung zu steuern, wäre «very unwise», wie es im nautischen Führer steht. Also änderten wir am Mittwoch den Plan und motorten nur 10 Meilen bis Baiona, einem Ort am Eingang der Bucht von Vigo. Dort würden wir ankern und am Donnerstag dann mit hoffentlich besserem Wind direkt bis Porto gelangen.
Am Donnerstag, 30. September 2021 hatte es zwar anfänglich mehr Wind, aber er flaute im Verlauf des Vormittags ab, so dass wir doch mit Motorunterstützung segelten. Motorsegeln ist nicht mein Ding. Ich liebe es, wenn das einzige Geräusch auf dem Schiff das Rauschen der Wellen ist. Aber wenn man noch 60 Meilen vor sich hat und das Schiff unter Segel nur mit 3,5 Knoten läuft, dann wird es ein sehr langer Tag, wenn man nicht etwas mit Dieselwind nachhilft. Also lief der Motor auf tiefen Touren, das Grossegel war weit offen um den achterlichen Wind einzufangen, ich ging runter um am Navigationstisch den Hafenplan von Porto zu studieren. Bea sass oben im Cockpit und hielt Ausschau, der Autopilot hielt das Schiff auf vorgegebenem Kurs, es war kurz nach 11 Uhr.
Da spürten wir einen harten Schlag von der Seite gegen das Heck des Schiffes und das Boot änderte den Kurs um etwa 90 Grad. Ich schreckte auf, eilte nach oben und Bea rief schon: «Orcas sind da!» Sofort schaltete ich Autopilot und Motor aus. Wir bargen so rasch es ging das Segel und drifteten. Das ist das Prozedere, das die spanischen Behörden für den Fall eines Orca-Angriffs empfehlen. Zudem funkte ich die Küstenwache in Vigo an und meldete den Zwischenfall. Wir vereinbarten, dass ich mich wieder melde, wenn sich die Orcas verzogen haben. Ich setzte per Funk auch eine «Securité»-Meldung an die umliegenden Schiffe ab, um sie zu warnen. Etwa 10 Segelschiffe in einem Umkreis von einigen Meilen waren mit uns in gleicher Richtung unterwegs.
Die zwei Killerwale von 4-5m Länge setzten unterdessen ihre Attacken fort. Sie stiessen mit Tempo von der Seite gegen das Ruder, tauchten von hinten unter das Schiff, bissen ins Ruderblatt und rissen daran herum. Die beiden Steuerräder wirbelten wie verrückt herum und ich versuchte sie mit leichtem Handdruck zu bremsen, so dass sie nicht bis an den Anschlag schlugen. Nach einer Viertelstunde sah man die ersten Trümmerteile des Ruderblattes im Wasser treiben. Manchmal hielt ein Orca ein Stücklein des Ruders im Maul und schwamm herum. So jetzt reichts aber, Jungs, dachte ich mir. Ruder ist kaputt, haut jetzt ab. Taten sie aber nicht. Die Attacken währten eine volle Stunde lang.
Es war ein beklemmendes Gefühl. Auf dem Schiff waren wir zwar safe. Wir checkten auch immer wieder, ob Wasser ins Schiff lief, was nicht der Fall war. Als unangenehm erlebten wir die ungeheure Beharrlichkeit der Tiere, mit der sie immer und immer wieder das Ruder angriffen. Irgendwann würde es komplett zerschlissen sein. Und dann? Würden sie sich als nächstes die Motorwelle vornehmen? Den Faltpropeller? Und überhaupt, warum taten sie das? War das Spieltrieb? Wo war Mama, die dem pubertierende Teenie-Orca den Riegel schob? War es Aggressivität? Gegen uns? Gegen Schiffe? Wollten sie uns versenken? Wir trieben etwa 5 Meilen vor der Küste in einer 2m Welle. Das Schiff stand parallel zur Welle und rollte entsprechend stark. Das waren unangenehme Momente auf dem Meer, umgeben von einer uns feindlich gesinnten Umwelt.
Als sich die Orcas um 12.15 Uhr verzogen hatten, testeten wir die Manövrierfähigkeit des Schiffes. Motor lief, Propeller schien auch intakt zu sein. Nur steuern war schwierig. Ich konnte eine Kurve nach Backbord (links) fahren aber nicht nach Steuerbord (rechts). Bei vollem Ausschlag nach Steuerbord lief das Schiff in etwa geradeaus, aber nicht nach rechts. Es war klar, dass wir nicht ohne fremde Hilfe zu einem Hafen kommen, so forderten wir per Funk einen Schlepp an.
Nach etwa einer Stunde kam der Rettungskreuzer angebraust und nahm uns in Schlepp. Los gings zurück nach Vigo, etwa 3 Stunden dauerte die Rückreise. Da die EXTRA MILE leicht nach Backbord zog, war es mir nicht möglich unser Schiff im Kielwasser des Rettungskreuzers zu halten. So pendelten wir immer etwas seitlich hinter dem Rettungsschiff hinterher. Und plötzlich waren die Schwertwale wieder da. Zuerst entdeckten wir die grossen Finnen seitlich neben dem Rettungskreuzer. Sie folgten dem Schiff der Seerettung und begutachteten es von der Seite. Der Rettungskreuzer ist aus Stahl, da ist auch für einen Orca nichts zu machen. Schliesslich kamen sie zu uns nach hinten und begannen erneut das Ruder zu attackieren. 10 Minuten später gaben sie auf und verschwanden endgültig.
Ein französischer Skipper, der am nächsten Tag – vermutlich von den gleichen Tieren – angegriffen wurde, erzählte mir am Telefon, dass die Tiere bei ihm ebenfalls den Schlepp behinderten, und zwar indem sie wiederholt auf die Schlepptrosse sprangen. Sein Schiff ist kleiner als unseres und er war drauf und dran, die Trosse zu kappen, weil die Schläge dermassen am Bug rissen. Ich konnte nicht anders als an «Der Schwarm» zu denken, einen Roman, den ich erst vor kurzem zu lesen begonnen habe. In dieser Geschichte versenken Wale einen kleinen Schlepper, indem sie auf die Schlepptrosse springen…
Der Kapitän schleppte uns nach Cangas, in den Hafen, wo sein Boot stationiert ist. Das hatte den Vorteil, dass er schon telefonisch mit der dortigen Werft das Auskranen organisieren konnte. Vor dem Hafen wurden wir längsseits genommen und direkt zum Kran bugsiert. Nach wenigen Minuten hing die EXTRA MILE in den Gurten des Travel-Lifts und wir begutachteten vom Land aus das malträtierte Ruder.
Die Arbeiter in der Werft waren sehr freundlich, stellten das Schiff auf die vorbereiteten Stützen, reichten uns eine Leiter, halfen mit dem Stromanschluss und zeigten uns wo die Toilette ist. Der Kapitän des Rettungskreuzers kam nochmals rüber und erkundigte sich ob alles ok sei. War es das? Äusserlich schon. Wir waren dankbar, dass uns nichts passiert ist und wie schlimm es um unser schwimmendes Zuhause bestellt war, konnte man noch nicht abschätzen. Innerlich waren wir jedoch durcheinander. In der Notsituation funktionierten wir beide ruhig und rational. Aber als die Spannung nachliess, war mir zum kotzen und gleichzeitig auch zum heulen zumute. Es war nicht der materielle Schaden, sondern diese unnachgiebige, gegen uns gerichtete Aggression der Tiere, die mir zu schaffen machte. In diesem Moment geriet meine Zuversicht in eine sinnvolle Ordnung des Ozeans etwas in Schieflage. Wir tranken ein Bier und rauchten ein Zigarillo – das half.
Jemand klopfte an die Bordwand und rief «Olâ!». Wir wachten auf und versuchten uns zu erinnern, wo wir waren und was passiert ist. Der erste Besucher am Tag danach war David, der Reporter von FARO DE VIGO. Wir baten ihn rein, machten ihm einen Kaffee und erzählten ihm die ganze Geschichte. Ich nehme mir gerne Zeit für einen (netten) Reporter. Lieber so, als wenn er sich einen Artikel aus ein paar Fetzen Gehörtem selber zusammen bastelt und dann einen Humbug in die Welt posaunt. Nach David kam ein Tierforscher von einer NGO, welche die Orca-Vorfälle untersucht. Dann kam das spanische Fernsehen T5 und dann ein mürrischer Delfinschützer (der kriegte keinen Kaffee). Später erschienen Markus und Isabel. Markus, ein Schweizer, war früher mal um die Welt gesegelt und kam vor 15 Jahren nach Galizien, wo er Isabel kennen lernte. Seitdem lebt das Paar in Cangas. Markus hatte in der Zeitung vom Vorfall gelesen und da auch drin stand, dass wir aus der Schweiz sind, kam er mit seiner Frau vorbei und bot uns Hilfe an. So konnte ich zum Beispiel die Schadensmeldung für die Versicherung bei ihm ausdrucken, unterschreiben und einscannen. Später tauchte ein dänisches Seglerpaar in der Werft auf. Sie hatten über Social-Media vom Angriff gehört und hatten daraufhin ihre Reisepläne vorerst unterbrochen. Natürlich war auch der Werft-Chef da und gab Tipps, wie man den Schaden am besten beheben könnte. Ein einheimischer Fischer brachte uns frische Sardinen. Irgendwann erschien auch der Jeanneau-Vertreter aus Vigo. Er würde mir einen Kostenvoranschlag für ein neues Ruder machen. Das war alles sehr nett und wichtig, aber doch ziemlich viel aufs mal, und wir waren froh, dass nun das Wochenende folgte und wir unsere Gedanken sortieren konnten.
Warum die Tiere Boote angreifen, weiss niemand. Orcas sind brutale Tiere gegenüber anderen Walen, Delfinen, Seelöwen, Haien etc, aber Angriffe auf Boote begannen erst 2020. Das gab es vorher nicht. Seither rätselt die Fachwelt über die Hintergründe dieses sonderbaren Verhaltens. Manche reden von Spieltrieb, andere von Konkurrenzkampf mit Fischerbooten, andere denken, es sei Rache für traumatische Erlebnisse mit Booten, wieder andere behaupten, die Orcas würden das Ruder als Schulungsobjekt nutzen, um den Jungen das Töten von Walen zu lehren. Ideen sind da, aber bisher konnte noch kein Walflüsterer eine plausible Erklärung abgeben und auch keine hilfreichen Tipps, wie man bei einem Angriff wirksam sein Boot schützt.
Wenn ein Bär in der Schweiz den Leuten zu nahe kommt oder aggressives Verhalten zeigt, wird er abgeschossen. Einem Wolf verzeiht man vielleicht 2-3 gerissene Schäfchen, ok, aber treibt er es zu weit, wird auch er zum Abschuss frei gegeben. Irgendwann ist fertig lustig, ob Wolf, Bär oder Orca, finde ich. Für all die Orca-Zwischenfälle, und das sind in den letzten zwei Jahren immerhin schon über 150 dokumentierte Fälle zwischen Gibraltar und der Biskaya, sind nur eine handvoll Individuen verantwortlich. Die Tierschützer erkennen sie am Fleckenmuster und an der Rückenflosse. Warum nimmt man diese Taliban-Orcas nicht aus dem Verkehr? Bei aller Tierliebe verstehe ich das nicht. Ich denke, dass die Orcas insgesamt schützenswerter wären, wenn man die paar Trouble-Maker beseitigen würde.
In den letzten Tagen haben wir Abklärungen getroffen und Offerten angefordert. Das Ruder (oder das von ihm übriggeblieben ist) ist in einer Werkstatt in Vigo und auf der noch intakten Ruderachse wird zuerst der Metallkern neu geschweisst. Danach wird auf dem Metallkern das Ruderblatt neu laminiert. So müssten wir in ca. 10 Tagen ein neues Ruder haben. Auf ein Original Ersatzteil von Jeanneau müssten wir 2-3 Monate warten. In der Zwischenzeit bekommt der Rumpf der EXTRA MILE neues Antifouling (Unterbodenanstrich) und einige Kratzer in der Bootswand werden ausgebessert. Diese Arbeiten hätten wir sowieso im Winter machen wollen, so lassen wir sie eben jetzt erledigen, wenn das Schiff eh schon ausgekrant ist.
Während diesen Arbeiten werden wir nicht in der Werft sein. Hier ist es doch ziemlich dreckig, laut und trist. Am Samstag reisen wir nach Porto – mit dem Bus halt, wenn es mit dem Schiff nicht geht. Andy wird einen schon lange geplanten und ausgebuchten Ausbildungstörn auf einem gecharterten Schiff fahren, und Bea wird diese Woche in einem schönen AirBnB verbringen und dem Portwein frönen. Danach sind noch 3 gemeinsame Tage in der Stadt am Douro geplant. Wenn wir nach 10 Tagen nach Cangas zurückkehren, hoffen wir bald wieder seeklar zu sein und unsere Reise Richtung Süden fortsetzen zu können. Die Orcas müssten in der Zwischenzeit schon weit Richtung Norden gezogen sein.